Magazin Transformation

Zeit am Rad zu drehen

Eine Zäsur in unserem Leben – beispielsweise eine Erkrankung, die uns unsere Grenzen aufzeigt – lässt uns in der Regel auf eine schnelle Rückkehr zur gewohnten Normalität hoffen. Dabei vergessen wir oftmals, dass solche Ereignisse mehr sind als ein unliebsames Zwischenspiel und so stellen wir nach Rückkehr in den Alltag verwundert fest, dass uns bisher Selbstverständliches unerwartet zu schaffen macht. Unser Verstand sucht erfolglos nach Erklärungen, doch die Lösung liegt tiefer. Es geht um unsere Emotionen in Verbindung mit der durchlebten Krise. Licht ins Dunkel bringt ein kritischer Blick auf unsere Bedürfnisstruktur. 

Versetzen Sie sich in die Lage eines sehr leistungs- und erfolgsorientierten Menschen, der einen Herzinfarkt erleidet und dadurch temporär außer Gefecht gesetzt wird. Dank ärztlicher Kunstfertigkeit ist er nach Wochen körperlich wieder hergestellt. Die Mediziner haben das Phänomen wissenschaftlich fundiert erläutert und das „Problem“ mit Medikamenten bestmöglich in Ordnung gebracht. Unser Beispiel-Mensch kehrt in den Alltag zurück. Sein privates und berufliches Umfeld freut sich und ist erleichtert, dass die Normalität wieder hergestellt ist. Für den Betroffenen stellt es sich jedoch unter Umständen anders dar: anstrengender, unsicherer und er stellt fest, je mehr Energie er investiert, um zur alten Form zurückzufinden, desto weniger mag dies gelingen. „Was ist nur los mit mir?“ ruft der Verstand und sucht nach logischen Erklärungen. Was den Gedankenspielen entgeht, sind die emotionalen Ursachen und Nachwirkungen der gesundheitlichen Krise sowie die Tatsache, dass diese das persönliche Bedürfnisrad ordentlich in Schwung gesetzt hat.

Wurden vor der Erkrankung Bedürfnisse der Selbststeuerung wie Erfolg, Entscheidungsfreiheit, Anerkennung u.ä. hoch priorisiert, drängen sich nach der gesundheitlichen Herausforderung verstärkt Sicherheitsbedürfnisse und/oder Bedürfnisse aus dem Bereich der Work-Life-Balance in den Vordergrund. In der Regel aktivierten die ignorierten Anforderungen des Organismus schon vor dem Ereignis die Signallampen. Doch niemand nahm von ihnen Notiz. Und auch nach dem Schicksalsschlag treffen sie nur selten auf Resonanz im Verhalten des Rekonvaleszenten, der seine Zeit mit überholten Reaktionsmustern und dem vergeblichen Streben nach dem „Vorher“ verschwendet.

Für eine vollständige Heilung bedarf es einer Neuausrichtung. Der innere Druck läßt nach, sobald die Weichen für die Wahrnehmung neuer Bedürfnisse gestellt und dem Umfeld offen kommuniziert werden.  Damit wird der Mensch nicht schwächer sondern „ganzheitlicher“, da er neue Seiten an sich entdecken lernt und diese in sein Leben integriert. Neben dem bisherigen Leistungsstreben lernt er zu differenzieren und an geeigneten Stellen neue Verhaltens- und Denkweisen in sein Leben zu integrieren. Warum sollten wir in unserer Freizeit nach Erfolg streben, warum im Freundeskreis nach Anerkennung für unsere „tollen“ Leistungen? Wozu bei einem Hobby nach Perfektion streben, mit dem Schrittzähler die Effizienz des Alltags bewerten, in den Sozialen Medien zu allem eine Meinung haben oder grundsätzlich Zeitdieben eine Chance geben? Zu unterscheiden lernen, wann es richtig ist, Leistung zu erbringen und bei welchen Gelegenheiten wir gelassen den Tag genießen können, verhindert, dass die Alarmleuchten unseres Körpers nicht auf gelb oder gar rot springen.

Meine persönliche Empfehlung für alle, die eine Krise zu bewältigen haben: Drehen Sie beherzt und schwungvoll am Rad der persönlichen Bedürfnisse.  Prüfen Sie, ob Ihr Innenleben eines Updates bedarf, auch wenn im Außen vermeintlich wieder alles beim Alten ist.